Kompaktwissen Sauerteig

Ich möchte mit den naseweisen Wissensanhäufungen über Sauerteig im Netz etwas aufräumen. Insbesondere eine häufig geforderte -und nach meinem Verständnis- nicht notwendige Orthodoxie regelmäßig an falschen Stellen geht mir auf den Zwirn.

Zunächst ein Bild, ein Modell, wie man sich den Sauerteig vorstellen könnte.

Dazu folgende Anmerkung:

Je besser das Modell, umso zuverlässiger treffen die eigenen Versuchsergebnisse die Erwartungen.

Stellen wir uns also einen Bauernhof alter Schule mit Kühen, Schweinen, Hühnern, Gänsen, Enten, Karnickeln usw. vor.

In diesem Modell füttern wir alle vorhandenen Organismen aus einem großen Topf voller Mischfutter. Da ist alles Mögliche in unterschiedlicher Menge drin. Wir füttern in immer gleicher Zusammensetzung in gleichen Zeitabständen zur gleichen Tageszeit.

Und die verschiedenen Viecher suchen sich genau das ‚raus, was sie brauchen.

Je nach Nahrungsangebot leben und vermehren sich die Tiere. Gras/Heu reicht z.B. für eine Herde von 50 Galloways. Getreide für 20 Hühner, die Reste für 10 Schweine.

Weil reichlich Gras/Heu vorhanden ist, prägen die Galloways den Charakter des Hofes.

Der Nachbarbauer hat durch ein besonderes Nahrungsangebot in seinem Mischfuttertopf verstanden, vor allem die Schwäbisch-Hallischen Schweine zu vermehren.

Ein ganz anderer Hofcharakter resultiert.

Der nächste Bauer füttert nur in der Nacht, Hund und Hahn verpennen die Futtergabe.

Von denen bleiben nur einzelne, abgezehrte Viecher über, die für den Hofcharakter keine Rolle spielen.

Ein weiterer Bauer sitzt in Calabrien, dort ist es den Wollschweinen für eine gewünschte Vermehrung viel zu heiß. Keine Chance für den Bauern, den Zielcharakter „Wollschweinspezialist“ des Hofes zu erreichen.

Genug.

Übertragen auf unseren Sauerteig (Bauernhof) benötigen wir noch eine Zusatzannahme: Alle möglichen Organismen (120 bis 150 verschiedene Bakterien- und Hefearten, die bislang aus Sauerteigen isoliert wurden) , die wir für ein erfolgreiches Backen benötigen, sind hochwahrscheinlich schon in einer übernommenen Kultur drin. Das jedenfalls sind die Erkenntnisse aus einigen wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema.
Egal, ob Weizensauer, Roggensauer, Misch- oder Spezialformen.
Nur möglicherweise nicht in der gewünschten Verteilung.
Diese bekomme ich durch eine Veränderung der Lebensumstände auf unserem Sauerteig-Bauernhof im Sinne der Zieleigenschaften.
Häufig „umzüchten“ genannt.

Wünsche ich mir also einen stark triebige, feinsäuerliche Möglichkeit, meine mediterranen Gebäcke auf grosses Volumen mit hintergründiger Säure, anhaltender Rösche und deutlich unterschiedlichem Charakter zu hefegeführtem Brot zu trimmen, beginne ich mit irgendeinem gut funktionierenden Sauerteigrest.

Der wird in warmem Wasser (30°C) aufgelöst und mit dem Mehl gefüttert, das den Hauptanteil im Brot ausmachen wird.

Anteil Mehl: Wasser 1:1 (TA200)

Häufigkeit des Fütterns: mindestens täglich (das heisst: die Hälfte bis 2/3 des Ansatzes werden verklappt und durch warmes Wasser & Mehl ersetzt)

Temperatur (30°C) halten (nicht unter 25°C. nicht über 35°C)!

Auf diese Weise habe ich meinem Sauerteig nach 3 bis 5 Tagen die gewünschten Eigenschaften im Wesentlichen antrainiert.

Besser: Durch gezielte Selektion werden die gewünschten Organismen gefördert.

Die wichtigsten Trainings- (Selektions)Maßnahmen auf bestimmte Eigenschaften sind:

-Wassergehalt

-Temperatur, bei der der Sauerteig gehalten wird

-Häufigkeit des Fütterns

-Art des Futters

Je häufiger Du fütterst und je wärmer (bis ca.38°C -dann schlägt es um-Du den Teig (die Kultur) hältst, desto milder und aktiver wird er.

Je fester, je höher der Mineralanteil (also etwa Vollkornmehl) umso aromatischer wird er.

Je heller das Brot, umso empfindlicher reagiert der Esser auf die vorhandene Säure.

Ballaststoffe im Brot puffern die Säurewirkung.

Ein etwas spitzer Säureeindruck bei frischem, sauerteiggetriebenem Weißbrot scheint sich am Folgetag abzuflachen und einem harmonischen Gesamteindruck zu weichen.

Das ist allerdings meine persönliche, noch nicht validierte Erfahrung.


Heute ein bekanntes Rezept mit anderem Mehl.
Pain de tradition en pointage retarde avec levain liquide
Traditionsbrot mit verlängerter, kühler Teigruhe und flüssigem Sauerteig.


Besonderheit
:

Aus der langen, kühlen Stückgare kommen die Brote direkt in den Ofen.

Keine Sauerei am Sonntagmorgen, bestes Frühstücksgebäck ohne Aufwand auf dem Tisch.

Glück und Friede werden beschert.

Heute mit meinem (noch-) Lieblingsmehl 812er Weizen.

Ein Wort zur Aufarbeitung:

500g Teiglinge werden fast wie Baguettes behandelt.

Nur das lange ausziehen zum Stock entfällt, alles andere ist identisch.

Aus einer Bemerkung darf abgeleitet werden:

Es gibt Bewegung an der Mehlfront.

Eigentlich sind es 2 Fronten.

Aber mehr dazu erst demnächst.

Urteil zum Brot:

Feinknusprige, rötliche Kruste, mit den gepunkteten Aufhellungen einer langen, kalten Führung (Tauansammlungen unter der Brotoberfläche, die beim Backen verdampfen) mittel- bis langfaserige Krume, gutes Aroma.

Mittlere, unregelmäßige, grauweisse, perlmuttfarben glänzende Porung.

Schöne Röstaromen an den dunkleren Ausbrüchen.

Erwartet (gewünscht) habe ich eine gröbere Porung.

Daran arbeite ich.

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