Also….für mein Brot würd‘ ich mich heiraten.
Sonst wohl eher nicht.
Die häufigsten Anfragen der letzten Wochen kreißten um die gute Führung von Weizensauerteig.
Schreiben wir ein paar Gesetze nieder (gilt f. Weizen und Roggen):
Je dunkler/gröber das Korn, mit dem der Sauer geführt wird, desto aromatischer wird der Sauer
Je geringer die TA (Teigausbeute, Wassergehalt des Teiges), desto langsamer wächst er, desto aromatischer ist der resultierende Sauer
Weizensauer ist weniger gutmütig als Roggensauer: man muß sich mehr um ihn kümmern.
Der Geschmack von Weizengebäck wird deutlich schneller als Roggengebäck durch zuviel Säure beeinträchtigt.
Schalenanteile puffern Säure: Je mehr Schalenanteile im Teigling, umso milder das Brot.
Die Adlermühle in Bahlingen bietet z.B. ein „mühlenfein vermahlenes Roggenvollkornmehl“ an.
Excellentes Mehl für komplex aromatische und trotzdem milde Roggensauerteige und -brote!
Funktionen des Sauers:
-Aromabildung
-Frischhaltung/Vermeidung bezw. Reduktion des Wachstums unerwünschter Mikroorganismen/Keime
-Erhaltung der Rösche der Kruste b. Weizenbroten
-Trieb, Volumenbildung des Teiglings, früher: Ersatz der damals teuren Bäckerhefe (danke, Dietmar!)
-Roggen: durch Versäuerung bessere Gashaltung
Gut geführte, triebstarke Sauerteige können, wenn sie richtig eingesetzt werden, die Bäckerhefe vollständig ersetzen. Diese Prozesse reproduzierbar zu beherrschen, bedarf einiger Stunden Trainings.
Immer wieder ist in bedeutungsschweren, wichtigtuerischen Sätzen zu lesen, Sauerteig Franz oder Herrmann oder Hans-Joseph seien schon -zig Jahre alt.
„Bäckerei xy bäckt schon seit 3 Generationen mit ihrem eigenen Sauerteig“
Das ist nicht zwangsläufig ein Qualitätskriterium.
Nicht für Geschmack, nicht für Reinheit, nicht für Triebstärke.
Qualitätsfaktoren für einen guten Weizensauer nach Priorität:
(gilt auch für Roggen-)
-Einhaltung der Temperaturen (Schwankungen um bis zu 3 °C seien erlaubt)
-Wahl des Futters (Substrates): wer weiß, wie sein Kanarienvogel aussieht, wenn der mal kein sauberes Wasser bekommt, ahnt was ich meine.
-Einhaltung der Fütterungszeiten
An die esotherische Fraktion der Leserschaft: gegen die o.g. Punkte ist es hingegen fast egal, ob ich bei Vollmond füttere oder mit Holzlöffel im Latschenkieferbottich rechts rum rühre.
Aus den genannten Punkten läßt sich einiges ableiten, z.B. die Sinnhaftigkeit von mit 2 Sauerteigen geführten Roggenbroten:
Sie haben unterschiedliche Funktionen im Teig.
Historischerweise ist der Weizensauer vorwiegend als treibende Kraft eingesetzt worden, der Roggensauer verantwortete hauptsächlich Versäuerung, Geschmack, Frischhaltung (der höhere Anteil an Essigsäure unterdrückt bestimmte Brotkeime sehr effektiv)
Zur Praxis:
Führung von Weizensauerteigen
Man nehme ca. 20g seines Weizensauers aus dem Kühlschrank, löse ihn in 50g Wasser von ca. 45°C.
Mit 50g Mehl seiner Wahl (Schelli: T80, Moulin Bourgeois, Verdelot) homogen verrühren, 30°C warm stellen.
Nach 6 bis 8h 50g entnehmen, mit 50g Wasser, diesmal nicht ganz so warm, ca. 30°C und 50g Mehl vermischen.
nach weiteren 6 bis 8h den letzten Schritt wiederholen, es lohnt sich, vorher einen Gedanken an die gebrauchte Sauerteigmenge zu verschwenden, um später nicht in Unmengen zu ersticken.
Nach 6 bis 8h ist der Sauerteig optimal arbeitsfähig für max. 24h. Dafür sollte er umgehend in den Kühlschrank gestellt werden.
Beste Ergebnisse werden erzielt, wenn der Sauerteig auf der Höhe seiner Schaffenskraft sofort verarbeitet wird.
Von diesem hochaktiven Sauerteig werden 50g abgenommen und im Kühlschrank verstaut bis zum nächsten Training/Backvorgang. Ich füttere nach spätestens 10 Tagen, halte den Sauerteig deutlich fester (TA150), wenn ich absehbar über längere Zeiträume (bis 2 Monate) nicht füttere.
Mit der Einhaltung stabiler Lebensbedingungen (s.o.) bildet sich eine sog. Leitkultur im Sauerteig heraus.
Das ist die charakterbestimmende Größe für:
-Aroma
und
-Triebstärke
Meinen Weizensauer ist ein Mitbringsel aus dem Trainingslager der INBP, Rouen, hat neben der hohen Triebstärke ein sehr schönes, mildsaures Joghurtaroma und hört inzwischen an einigen Orten Deutschlands auf „Schelli“ oder „Franzi“.
Rezept
Baguette de Tradition avec Levain Liquide
690g Wasser, 18°C
1000g T65, Label Rouge (frz. Baguettemehl, alternativ 550er Weizenmehl)
homogen verrühren
30min Autolyse
100g Levain liquide (Weizensauer)
22g Salz
8g Frischhefe
12min kneten, Spiralkneter, langsam
2h:30min Teigruhe, innerhalb der ersten Stunde 1 bis 2x zusammenschlagen (dehnen und falten).
Dann 6 bis 36h abgedeckt in den Kühlschrank.
4°C, !nicht! wesentlich mehr.
Teiglinge nach Wunschgewicht (z.B. 200g f. den Haushaltsbackofen) möglichst sauber abstechen und vorsichtig zu Tonnen formen, im Couche (Bäckerleinen) 1h Teigruhe.
Einfache, rustikale Baguettevariante:
Nur noch ein mal die Oberfläche auf Spannung bringen, dabei etwas auseinanderziehen.
Kann sofort unter Schwaden (260°C) geschossen werden.
Schelli: Schluß nach oben, ein mal eingeschnitten.
T65 toleriert auch noch eine weitere Teigruhe von ca. 30min.
Bei meinen Arbeitsabläufen wichtig für den 2. Schuß.
(die 2. Backofenladung)
Schellis Urteil:
Kruste feinknusprig, aromatisch. Mit Farbenspiel von golden bis dunkelbraun. Sehr gut.
Krume:
Für die Langzeitführung (22h) irritierend wenig Säure. Dürfte mit dem -wie oben beschrieben- trainierten Weizensauer zusammenhängen.
Schönes, unregelmäßiges Porenbild, jedoch dichter als der vortägige Versuch mit Pate fermente (altem Teig).
Feuchte, perlmuttig glänzende, mildaromatische Krume.
Innerhalb der Familie der Baguetteähnlichen nach den Spielregeln der trad. frz. Backkunst sind Aussehen und Mundgefühl der Pate fermente-Baguettekrume für mich unerreicht.
Allerdings auch der Knusper der hier beschriebenen Levain liquide-Stangen.
So strebe ich weiter nach der eierlegenden Wollmilchvariante.